Kreisverband Fürth-Land

Auch Nichtstun ist wichtig

11. Familienkonferenz stellte Freiräume für Jugendliche und Kinder in den Mittelpunkt

Auch Nichtstun ist wichtig: 11. Familienkonferenz stellte Freiräume für Jugendliche und Kinder in den Mittelpunkt
Jugendhilfeplanerin Tabea Höppner, Referent Peter Martin Thomas, der Vorsitzende des Runden Tisch Familie Maximilian Gaul und Landrat Matthias Dießl

Burnout war bis vor einigen Jahren eine Diagnose, die vorwiegend Erwachsene bekamen. Mittlerweile wird das Überlastungs-Syndrom immer häufiger bei Kindern und Jugendlichen festgestellt. Die Anforderungen an junge Leute sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen, auch der Leistungsdruck. Und scheinbar gibt es immer weniger Freiräume für Jugendliche, um sich entfalten zu können. 
 
Die 11. Familienkonferenz des Landkreises Fürth beschäftigte sich deshalb mit dem Thema “FREIzeit, FREIraum, FREIheit – unsere Kinder und Jugendliche zwischen Erwartungsdruck und Selbstentfaltung“. Landrat Matthias Dießl zitierte eingangs den Kinderarzt und Wissenschaftler Herbert Renz-Polster:  “Eine Generation, die zunehmend in den besten Lebensjahren mit Burnout zu kämpfen hat, entwirft für ihre eigenen Kinder einen Lebensweg mit noch mehr Tempo, noch mehr Leistung, noch mehr "Förderung". Sie funktioniert Kindergärten zu Schulen um, weil sie glaubt, Kinder, die früh Mathe lernen, seien schneller am Ziel. Moment einmal – an welchem Ziel?” Im aktualisierten Jugendhilfeplan sei das Thema Freizeit und Freiräume für Jugendliche ein Punkt, der als besonders wichtig bewertet worden sei, betonte der Landrat. Es gebe immer mehr Betreuungsangebote, gleichzeitig steige der Förderungs- und Leistungsanspruch.  “Aber ist das der richtige Weg?”, fragte Matthias Dießl. Es sei ein schwieriger Balanceakt, einerseits die Wünsche der Kinder und Jugendlichen nach mehr Freiräumen zu erfüllen und andererseits die Erwartungen der Eltern unter einen Hut zu bekommen.

Puschendorfs Bürgermeister Wolfgang  Kistner freute sich, dass die Familienkonferenz erstmals in Puschendorf zu Gast war. 
 
Das Impulsreferat hielt der Co-Autor der Sinus-Jugendstudien Peter Martin Thomas. In äußerst unterhaltsamer und zugleich informativer Weise berichtete er, “ wie Jugendliche heute ticken”. Das “Verschwinden der Kindheit” habe der USamerikanischer Medienwissenschaftler Neil Postman schon 1982 angekündigt. “Da war das Internet noch nicht einmal absehbar”. Die Sorge um die Freiräume der Kinder sei somit alles andere als ein neues Thema, betonte der Experte.
 
Er zeigte auf, welche wichtigen Entwicklungen es auf der Welt vom Jahr 2000 bis heute gegeben hat. “2007 kam das erste Smartphone auf den Markt, nur zehn Jahr später hat sich diese Technik weltweit durchgesetzt”. Der Buchdruck dagegen habe 200 Jahre bis zum Durchbruch gebraucht. “Wir leben in einer Zeit, der sozialen Beschleunigung, viele Entwicklungen passieren immer schneller”. Selbst Facebook ist heute schon wieder bei den meisten Jugendlichen “out” und gelte als das soziale Netzwerk der Erwachsenen. “Kinder und Jugendliche tummeln sich längst auf anderen Seiten”.
 
Die Technik habe allerdings nicht dazu geführt, dass wir mehr Zeit haben. Im Gegenteil: “Wir nutzen die gewonnene Zeit nicht zum reflektieren oder entspannen, sondern wir versuchen so viel wie möglich an einem Tag unterzubringen.” Peter Martin Thomas berichtete zudem von einem Phänomen: “Obwohl immer alles schneller geht in der heutigen Zeit, dauert die Jugend immer länger.” Jugendliche wüssten zwar schon mit elf Jahren über Mode Bescheid und stylten sich wie Erwachsene, aber bis junge Leute heute von Zuhause ausziehen oder selbst eine Familie gründen, vergeht nach seinen Beobachtungen immer mehr Zeit. “Wir leben in einer Zeit, in der das Zusammenleben mit den Eltern viel konfliktfreier ist, weil Eltern zum Teil das Gleiche tun wie ihre Kinder.” Eltern seien sehr pop-kulturell geworden, beschrieb der Fachmann und zeigte die Werbeanzeige einer Modekette: Mama und Papa tragen die gleichen hippen Kleider wie ihre Kinder. Die Folge dieser Entwicklung: Es gebe kaum mehr Bereiche, wo die Eltern nicht auch seien. “Kinder und Jugendliche ziehen sich deshalb immer mehr ins Internet zurück, weil da die Eltern kaum sind.”

Peter Martin Thomas stellte verschiedene Typen von Jugendlichen vor, die er wissenschaftlich in mehrere Kategorien einordnete - vom konservativ-bürgerlichen Jugendlichen, der seine Heimat liebt, keine neuen Möbel braucht und ein Beschleunigungs-Verweigerer ist, bis hin zum materialistischen Hedonisten, der immer die neueste Technik will, modisch auf dem neuesten Stand ist, einen riesigen Kleiderschrank hat und von Luxus träumt. Nach einer Pause ging es in verschiedenen Workshops weiter. Der Landrat dankte Jugendhilfeplanerin Tabea Höppner für die Organisation der 11. Familienkonferenz in Zusammenarbeit mit dem Runden Tisch Familie. Dessen Vorsitzender Maximilian Gaul sagte anschließend, die Veranstaltung habe aufgezeigt, “warum Jugendliche und Kinder ganz unterschiedliche Freiräume für eine gesunde Entwicklung im Hier und Jetzt brauchen.” Auch die Kommunalpolitik müsse solche Freiräume ermöglichen. Die Angst der Betreuer und Erzieher vor der Verrechtlichung in den Betreuungseinrichtungen und der Jugendarbeit könne allerdings vieles an Entwicklungschancen behindern und verhindern, so Maximilian Gaul. Der Anwalt Stefan Obermeier konnte in diesem Punkt bei der Familienkonferenz mit seinem zweistündigen Seminar zur Aufsichtspflicht viel Aufklärung beitragen. Der Landkreis Fürth startet zudem die Kampagne “Mehr freie Zeit”, wie der Landrat informierte. Sie besteht aus mehreren Maßnahmen: So wird es am 10. April 2018 den Fachvortrag „Freie Zeit und Freiräume zum eigenständigen Spiel draußen“ im Rahmen des landkreisweiten Elternabends geben. Im Juni 2018 ist der Fachvortrag „Keine Zeit für Jugendarbeit“ im Rahmen der Fachkonferenz des Kreisjugendrings geplant. Beim Fachtag „Alles, was Recht ist - Aufsichtspflicht an der Schnittstelle Schule-Jugendarbeit” wird das Thema Ende 2018 ebenfalls aufgegriffen werden. Und dann gibt es noch die Idee eines Gutscheinbuchs: Kinder und Jugendliche sollen Gutscheine erhalten, mit denen sie freie Zeit “einfordern” können. Zum Beispiel: "Heute mal keinen Musikunterricht", "Heute mal das Training ausfallen lassen", "Heute keine Hausaufgaben - ich kann das schon".