Müller im Welt-Interview

Neuer Stellenwert für Afrika

„42 von den 54 afrikanischen Ländern hatten im vergangenen Jahr ein höheres Wirtschaftswachstum als Deutschland“, so Bundesentwicklungshilfeminister Gerd Müller im Interview mit der Tageszeitung „Welt“: „Das zeigt, welche enorme Dynamik Afrika entwickeln kann. Der Anteil Afrikas am weltweiten Handel beträgt aber nur zwei Prozent – die EU hat einen Anteil von fast 40 Prozent. Und: Die afrikanische Bevölkerung wird sich bis zum Jahr 2050 auf mehr als 2,5 Milliarden Menschen verdoppeln, was zur Folge hat, dass jedes Jahr 20 Millionen junge Menschen zusätzlich auf den Arbeitsmarkt drängen werden.“ Müller sieht hier erheblichen Handlungsbedarf.

Herausforderungen und Chancen

Laut Müller verdeutlichen diese Zahlen zentrale Herausforderungen und Chancen: „Wegen des Bevölkerungswachstums muss Afrika seine Nahrungsmittelproduktion bis 2050 verdoppeln.“ Außerdem ziehe es immer mehr Menschen in die Städte, weshalb in den kommenden zehn Jahren in afrikanischen Städten mehr gebaut werden soll als in den vergangenen 100 Jahren in Europa. Müller weiter: „Der Energiebedarf wird gewaltig ansteigen. Damit in jedem afrikanischen Haushalt ein Licht brennt, wären Hunderte neue Kohlekraftwerke notwendig. Der Reichstag in Berlin würde schwarz vom Ruß werden, wenn der gigantische Energiehunger mit fossilen Brennstoffen gestillt wird.“

Afrika muss grüner Kontinent werden

Müller machte deutlich, dass Afrika mit Technologie für erneuerbare Energie zum grünen Kontinent gemacht werden müsse. Deutschland investiere hier unter anderem in Forschungsprojekte zur Speicherung von Sonnenenergie und zur Entwicklung synthetischer Kraftstoffe. Zum Thema Mobilität sagte Müller: „300 Millionen Autos – das ist der potenzielle Markt in Afrika. Ohne ein Mobilitätskonzept in den wachsenden Megastädten, das auf neue Antriebstechnologien setzt, werden die Menschen im Smog ersticken. Die Auswirkungen fürs Klima wären auch bei uns gewaltig.“

Fairness und Zusammenarbeit in der Zukunft

„Unser Wohlstand baut in erheblichem Maß auf den Ressourcen Afrikas auf“, stellte Müller fest: „Kein Handy funktioniert ohne Coltan aus dem Kongo. Aber wir bezahlen den Menschen keine fairen Löhne und akzeptieren, dass die Natur ausgebeutet wird. Deswegen brauchen wir ein neues Denken und Handeln in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Der Marshallplan mit Afrika zeigt Lösungswege für wirtschaftliche Entwicklung und Beschäftigung in Afrika auf.“ Afrika müsse aber vor allem selbst mehr leisten. „Mit guten Rahmenbedingungen für Investitionen und Zukunftsperspektiven für die eigene Bevölkerung. Die Herausforderungen sind lösbar – nicht allein, aber von Afrika und Europa gemeinsam.“

Große Chancen durch erstarkenden Zusammenhalt

Schon jetzt orientierten sich die afrikanischen Staaten an der EU, indem sie sich in der Afrikanischen Union zusammengeschlossen haben: „Sie bauen eine eigene Sicherheitsstruktur auf und haben erst vor wenigen Monaten eine Wirtschafts- und Freihandelsunion nach dem Vorbild des europäischen Binnenmarkts beschlossen. Dieser Schritt ist wichtig, weil nur 18 Prozent aller Waren innerhalb Afrikas gehandelt werden. In Europa sind das 70 Prozent. Mit einer afrikaweiten Freihandelszone könnten Güter und Dienstleistungen für über eine Milliarde Menschen frei ausgetauscht werden. Ein unglaubliches Potenzial für Entwicklung.“

Entwicklungshilfe als humanitäre Verpflichtung

Müller machte deutlich, dass Deutschland eine „humanitäre Verpflichtung" gegenüber den ärmsten Ländern Afrikas“ habe: „Investitionen in Ernährungssicherung und Armutsbekämpfung, in Bildung und eine grundlegende Gesundheitsversorgung bleiben Schwerpunkt unserer Arbeit. Besonders wichtig ist dabei die großartige Arbeit vieler kirchlicher und zivilgesellschaftlicher Hilfsorganisationen. Daneben fördern wir verstärkt Reformen für ein stärkeres Engagement der Privatwirtschaft.“ In einem großen gemeinsamen innerafrikanischen Markt aus jetzt 54 einzelnen Märkten sieht der Entwicklungsminister große Chancen für eine Belebung privater Investitionen in den Kontinent sowie für die deutsche Wirtschaft.

Bessere Investitionsbedingungen für deutsche Unternehmen

Aktuell engagieren sich nur etwa 1.000 der 3,5 Millionen deutschen Unternehmen in Afrika. Damit sind andere Wirtschaftsnationen Deutschland voraus. Müller: „Bislang sind vor allem chinesische, türkische und russische Unternehmen aktiv. China ist mit 40 Milliarden Dollar der größte Investor auf dem Kontinent. Ich würde mir wünschen, dass sich deutsche und europäische Unternehmen im gleichen Umfang engagieren.“ Um die Investitionsbedingungen vor allem für mittelständische Unternehmen zu verbessen, will Müller ein Entwicklungsinvestitionsgesetz auf den Weg bringen.

Handel mit Afrika stärken

Mit großer Sorge stellte Müller fest, dass die EU-Importe aus Afrika in den letzten Jahren um fast 40 Prozent zurückgegangen sind: „Der europäische Markt ist faktisch gesperrt. Gleichzeitig steigen die europäischen Exporte nach Afrika.“ Müller wolle bis zur deutschen Ratspräsidentschaft 2020 für einen neuen EU-Afrika-Vertrag werben, in dessen Zentrum die Handelspolitik stehe. Seine wichtigste Forderung: „Öffnet die Märkte für alle afrikanischen Güter. Insbesondere landwirtschaftliche Produkte müssen zoll- und quotenfrei nach Europa eingeführt werden können. Nur so kann sich der Kontinent in eine Wachstumsregion verwandeln.“

Mehr Hilfe auf die afrikanische Landwirtschaft

Der Landwirtschaft in Afrika komme eine Schlüsselfunktion zu, so Müller: „Wenn wir Afrika in der Landwirtschaft nicht zum Selbstversorger und Exporteur werden lassen, wo sollen denn dann Arbeitsplätze entstehen? Sowohl die Amerikaner als auch die Europäer stützen ihre Landwirtschaft Jahr für Jahr mit vielem Milliarden. Aber auch Afrikas Landwirtschaft wird von verheerenden Dürren heimgesucht und muss Produktivitätssprünge machen.“ Um die Landwirtschaft in Afrika nachhaltig zu stützen, müsste mehr Geld im EU-Haushalt eingeplant werden. Aktuell seien das nur 39 Milliarden Euro in den Jahren 2021 bis 2027, während im gleichen Zeitraum in der EU 370 Milliarden investiert werden. Müller forderte daher ein Umdenken: „Ich will nicht die einen gegen die anderen ausspielen. Aber die bisherigen Haushaltsansätze entsprechen nicht den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Um es bildlich zu sagen: Afrika wird nicht mit einigen Regentropfen grün. Wir müssen dem Kontinent einen neuen Stellenwert einräumen – auch politisch.“