Ortsverband Ottensoos

Bürgermeister Klaus Falk zum Volkstrauertag 2019

Mitreden, mitdiskutieren, mitüberzeugen!

Wir leben in unruhigen und beunruhigenden Zeiten. Kein Tag an dem nicht weltpolitisch neue Missstimmungen, Unruhe und Konflikte auftauchen: In Nordsyrien, blutige Proteste im Irak, die Lage im Libanon, in Mali und Südamerika, aber auch, näher bei uns: Spanien und Katalonien und unser „Bestseller“ direkt vor der Haustür. Die Briten mit ihrem Brexit.

Die Töne, die Staatenlenker wie Trump, Erdogan, Bolsonaro in Brasilien, Boris Johnson usw. anschlagen erinnern mich an das Schopenhauer-Wort: „Jede Nation spottet über die andere, und alle haben Recht.“ Wenn’s, real betrachtet, nicht so ernst wäre, könnten wir darüber schmunzeln. Die nationalen Egoismen im Sinn von Trumps „America first“ nehmen weltweit zu, aber auch bei uns im Land tritt Rassismus und Antisemitismus (Siehe Terrorakt in Halle) immer deutlicher zu Tage. Durch Populismus und gezielte Fehlinformation, nicht nur durch Politiker sondern häufig auch durch die Medien selbst werden Menschen manipuliert und dementsprechend fehlgeleitet. Aber: Fake News, das ist nicht erst eine Erfindung von Donald Trump! Die gab es auch bereits zum Beginn des 2. Weltkriegs, der sich heuer zum 80.ten Mal jährt: Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen am 01. September 1939 wurde mit dem polnischen Überfall auf einen deutschen Sender bei Gleiwitz (Oberschlesien) gerechtfertigt. Was ist tatsächlich geschehen: Die SS bekam die für die Attacke vereinbarte Parole „Großmutter ist tot“. Daraufhin stürmten SS-Männer in polnischen Uniformen den Sender. Als angebliche Beweise für den „Überfall“ wurden dann noch einige zuvor ermordete und in polnische Uniformen gesteckte Häftlinge des KZ Sachsenhausen im Sender deponiert: Perfide „Fake News“ der Nazis! Was dann folgte ist hinlänglich bekannt: 6 Jahre Krieg, über 55 Millionen Tote, etliche weitere Millionen an Körper und Geist versehrte Menschen, ein in weiten Teilen verheertes Europa (nicht nur). Die Toten, diese an zahllosen Mahnmalen in Stein gemeißelten Namen, mahnen uns: Ihrer wollen wir heute besonders gedenken.

Totengedenken, offizieller Text:

Wir gedenken heute der Opfer von Krieg und Gewalt: der Soldaten, die in den beiden Weltkriegen gefallen, ihren Verwundungen erlegen, in Gefangenschaft gestorben oder seither vermisst sind, der Männer, Frauen und Kinder aller Völker, die durch Kriegshandlungen ihr Leben lassen mussten. Wir gedenken derer, die im Widerstand, um ihrer Überzeugung oder ihres Glaubens willen Opfer der Gewaltherrschaft wurden, und derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde. Wir gedenken der Männer, Frauen und Kinder, die in der Folge des Krieges auf der Flucht oder bei der Vertreibung aus der Heimat und im Zuge der Teilung Deutschlands und Europa, ihr Leben verloren.Wir gedenken der Bundeswehrsoldaten und anderer Einsatzkräfte, die in Ausübung ihres Dienstes ihr Leben ließen. Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Opfer sinnloser Gewalt, die bei uns Schutz suchten. Wir trauern mit den Müttern und mit allen, die Leid tragen, um die Toten. 

Frieden in Europa, meine Damen und Herren, ist auch heute nicht selbstverständlich. Die Überwindung von Nationalismus und Rassismus, von Hass und Intoleranz, von Unterdrückung und Verfolgung braucht Mut und Ausdauer. Und zwar von allen Bürgerinnen und Bürgern, denen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung am Herzen liegt. Und dabei dürfen wir, Gott sei Dank, auch auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern hoffen und Kraft schöpfen aus positiven Entwicklungen, die bis heute tragen:

Da ist z. B. unser Grundgesetz, das vor 70 Jahren in Kraft getreten ist: Die Bundesrepublik sollte so etwas wie die Antithese zum NS-Staat werden, das Grundgesetz gab dafür den Rahmen. Und gibt ihn bis heute: Wie wuchtig ist diese Aussage: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“! Aller Menschen, wohlgemerkt, ohne Unterschied! Da sind auch 30 Jahre Mauerfall: Die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands. Da ist zusammengekommen, was zusammen gehört:

An dieser grundlegenden Erkenntnis /Feststellung dürfen wir nicht rütteln lassen! Darüber sind wir froh und auf das bislang Erreichte dürfen wir auch, sehr zu recht, stolz sein. Natürlich ist längst nicht alles gerecht gelöst und verteilt und deshalb gibt es auch Frust zur Genüge, bei den einen, weil sie meinen sie kommen zu kurz und bei den anderen, weil sie die Unzufriedenheit der anderen nicht nachvollziehen können. Viele schräge Dinge, die so passieren, lassen uns verständnislos mit dem Kopf schütteln (starker AfD-Zulauf).

Aber sie lassen uns auch eines erkennen: Demokratie gibt es nicht zum Nulltarif. Die Politiker „da oben“ sind nicht allein das, was eine Demokratie ausmacht. Sie allein sind nicht in der Lage, jedem von uns die „Suppenkelle voll Demokratie“ zukommen zu lassen, die wir gern hätten. Die Demokratie ist die wahrscheinlich beste Regierungsform, die es gibt, aber sie ist auch mühevoll. Das war uns bislang einigermaßen fremd, denn bei Wahlen in den letzten Jahrzehnten kamen doch immer vorzeigbare, demokratisch gut vertretbare und handlungsfähige Regierungen zustande.

Aber: „Wir haben bereits geerntet, nämlich die Früchte der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit, jetzt müssen wir das säen, was morgen geerntet werden soll.“ Derzeit erleben wir, wie die „politische und z. T. auch die gesellschaftliche Mitte“ ausblutet, wie die politischen Ränder links und rechts erstarken und die Stimmung gereizter, der Ton rauer wird. Und diese Entwicklung ist nicht nur weit weg von uns. Deshalb dürfen wir, wenn wir unseren Beitrag zu einer stabilen und ausgewogenen Demokratie und Frieden und Freiheit leisten wollen, nicht schweigen. Denn, das große Ganze bei uns im Land ist immer noch gut! Wir leben überwiegend hervorragend und viele weitere immer noch gut auskömmlich. Wir müssen mitreden, mitdiskutieren, mitüberzeugen und uns ggfs. aber auch überzeugen lassen: In der Familie, im Bekanntenkreis, in den Vereinen, an den Stammtischen. Diesen schlechten, unser Land und unsere Demokratie gefährdenden Entwicklungen müssen wir uns mit unserer Meinung und unserer Haltung entgegenstellen. Gustav Heinemann, unser Bundespräsident von 1969 bis 1974, hat das so ausgedrückt: „Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.“ Lassen wir uns, heute getragen von der Erinnerung, welche furchtbaren Folgen unser Unterlassen haben könnte, ansprechen und den Auftrag annehmen, an einer friedvollen Gestaltung unserer Zukunft mitzuwirken.